Die Frau meines Mannes – Kurzgeschichte zum Welttag des Buches

Die Frau meines Mannes – Kurzgeschichte zum Welttag des Buches

Ich gieße mir den restlichen Kaffee vom Frühstück ein, lehne mich an den Herd und sehe nachdenklich aus dem Küchenfenster. Zum Glück haben die Kinder nichts bemerkt. Dirks nächtlicher Besuch hat mich durcheinandergebracht. Dabei hab ich geglaubt, ihn überwunden zu haben. Nach zwei Jahren endlich überwunden. Und jetzt kommt er mit seinen Alltagsproblemen daher und heult sich bei mir aus. Ich muss auch alles allein machen, seit er mich verlassen hat. Der Job, die Kinder, der Haushalt. Und das alles nicht nur für zwei Wochen. Wer sorgt sich denn um mich? Wütend packe ich die leere Tasse in die Spülmaschine, als es an der Tür klingelt. Ich sehe um die Ecke. Dirk! Weiß er, dass ich donnerstags zu Hause bin? Mein Herz schlägt schneller, ich überlege, das Klingeln zu ignorieren, sicher hat er mich noch nicht entdeckt. Doch dann höre ich den Schlüssel, er wird reinkommen, wie heute Nacht. Er hat plötzlich neben meinem Bett gesessen.

Als ich zur Tür gehe, spüre ich die Röte im Gesicht. Dirk. Mein Mann. Den ich immer geliebt habe. Steht jetzt vor dieser Tür. Ich öffne sie und er erdrückt mich fast. Wie ein kleines Kind, das Trost erwartet, schlingt er die Arme um mich. Ich versuche, nüchtern zu wirken. „Was ist passiert?“, frage ich.

Ich halt es nicht mehr aus! Ich kann sie nicht mehr ertragen! Ihre Blicke, ihre Vorschläge, ihre Anspielungen!“

Von wem redest du?“

Simones Mutter. Sie hält mich für einen Versager.“

Habt ihr euch gestritten? Sei froh, dass sie euch hilft, solange deine Frau im Krankenhaus ist!“

Gestritten? Alle schreien sich nur noch an. Jeder ist gereizt. Die Großen, weil ich sie als Babysitter missbrauche. Die Kleine, weil ihr die Mama fehlt. Und ich, weil ich mit der ganzen Situation nicht umgehen kann.“ Er gibt mich frei und geht ins Wohnzimmer hinüber. Als wäre er hier noch zu Hause, lässt er sich aufs Sofa fallen. Schlimm sieht er aus, bemerke ich. Blass, schmal, die Haare zu lang, das Hemd offen. Noch nicht mal rasiert hat er sich heute Morgen. Wenn er so seinen Kunden gegenübertritt? Ich setze mich einen Meter entfernt zu ihm aufs Sofa.

Die Seele der Familie fehlt“, sagt er und sieht zu Boden.

Du hast gesagt, sie kommt nächste Woche wieder!“ Doch das scheint er nicht zu hören. Ich glaube, er fängt gleich an zu weinen. Wann hat er das letzte Mal geweint? Nur einmal, vor vielen Jahren, als wir noch nicht verheiratet waren. Ich beobachte ihn. Selbst jetzt, da er so ungepflegt vor mir sitzt, spüre ich eine tiefe Zuneigung, die mich verunsichert.

Ich liebe dich immer noch!“ Er klammert sich um meine Hüften und versinkt in meinem Schoß. „Es tut mir so leid, Gabi. Es tut mir so leid!“

Ich höre ihn schluchzen. Am liebsten hätte ich ihn jetzt gestreichelt, aber meine Hände zittern viel zu sehr. Was soll ich nur tun? Zärtlich berühre ich seinen Kopf.

***

Eigentlich wollte er gehen. Dirk ist sogar schon in Richtung Tür gelaufen, als er sich umdreht, zu mir zurückkommt und vorsichtig meinen Kopf fasst. Ich spüre den Kuss bis tief in meinen Körper hinein, kann und will jetzt nicht mehr vernünftig sein. Schließlich war er mein Mann. Den ich noch immer hätte, wäre „sie“ nicht gewesen. Dirk lässt von mir ab und nimmt mich mit zur Treppe. Ich widerspreche nicht. Hand in Hand steigen wir Stufe um Stufe nach oben. Ich mache mir nicht mal die Mühe, die Jalousien herunter zu lassen. Er ist mein Mann. Sollen es doch alle sehen. Sollen doch alle teilhaben an meinem Glück. Wir ziehen uns gegenseitig aus, beeilen uns, können es kaum erwarten. Wie lange ist es her, dass ich in seine strahlenden Augen gesehen habe? Dass wir so lustvoll waren?

***

Beim Mittagessen beobachte ich abwesend meine Töchter. Diese Ähnlichkeit. Vor allem Laura ist Dirk wie aus dem Gesicht geschnitten. Es ist schön, jetzt an ihn zu denken. Und doch peinigen mich meine Gedanken. Bin ich nicht genauso hinterhältig wie Dirks neue Frau? Jetzt kenne ich das Gefühl, auf jemanden verzichten zu müssen, nur weil er verheiratet ist. Man kann es eben nicht. In diesem Moment sieht man nur sich. Man ist egoistisch, genießt den Augenblick, räumt alle Zweifel in die hinterste Kellerecke und wird doch hinterher bestraft. Bestraft durch Gewissensbisse und Vorhaltungen. Er gehört mir, habe ich mir eingeredet, als ich am späten Vormittag in Dirks Armen lag. Doch jetzt weiß ich, dass ich ihn wegschicken werde. Das nächste Mal. Zu seiner Frau. Dort gehört er hin. Das hier ist Vergangenheit. Wir haben eine kranke, wehrlose Frau betrogen. Ihre Abwesenheit ausgenutzt. Ich verzweifle an diesen Gedanken, schäme mich. Gestern Morgen noch ist mein Leben in Ordnung gewesen. Er hat es mal wieder durcheinander gewirbelt. Was denkt er sich eigentlich dabei?

***

Die ganze Nacht liege ich wach. Er kommt nicht. Gott sei Dank. Mir fallen Dirks Worte ein. Zurück zu mir will er. Macht die nächste Frau unglücklich. Und wie lange würde es gut gehen?

Ich schicke die Kinder zur Schule und beeile mich, ins Bad zu kommen. Die Julisonne blinzelt durch das Fenster, als würde sie mir zuzwinkern: „Du tust das Richtige!“ Ich fühle mich gleich viel wohler. Ich schlüpfe in die Sachen, die ich mir vorher zurechtgelegt habe und lasse meine Haare bewusst offen. Ich brauche mich nicht zu verstecken, im Gegenteil. Mein Spiegelbild zeigt Entschlossenheit und das gefällt mir. Ich habe keine Lust mehr, sein Spielobjekt zu sein.

***

Simone Gerstberger. Ich betrachte das Namensschild von Zimmer 304. Hinter dieser Tür liegt die Frau, die meinen Namen trägt. Die Frau meines Mannes.

Ich klopfe, öffne, doch Angst überwältigt mich. Ich bringe nur ein leises „Entschuldigung“ heraus und wende mich wieder ab. Draußen lehne ich mich mit dem Rücken an die Tür, schließe die Augen und atme tief. Wie sie da so liegt. In ihrem Klinikbett. Verlassen von ihrem Mann. Ihre kurzen blonden Haaren perfekt gestylt. Ich werde hineingehen. Ich werde diese Tür ein zweites Mal öffnen. Jetzt gleich. Nur noch einmal durchatmen!

***

Simone will sich rechtfertigen, als sie erfährt, wer ich bin. „Dirk … Er hat mir nichts von euch erzählt. Das müssen Sie mir glauben!“

Sie macht einen sympathischen Eindruck auf mich und ich frage mich, warum wir uns nicht früher kennengelernt haben. Schon der Kinder zuliebe. Gleich würde ich alles zerstören. Ich beginne zu erzählen und Simone horcht auf. „Hat er mit Ihnen geschlafen?“ Flehend sieht sie mich an.

Es tut mir leid! Wenn er wiederkommt, schicke ich ihn nach Hause.“ – Nach Hause, wie das klingt, denke ich. Wo ist eigentlich sein Zuhause?

Simone bleibt still. Sie scheint zu überlegen. Ich bemerke, wie sich ihre Augen mit Tränen füllen und es tut mir unendlich leid. Dann lächelt diese Frau und ich bin verunsichert, habe tausend Fragen in meinem Kopf. Bis zur Antwort: Ich will ihn auch nicht mehr!“

Habe ich richtig gehört? Ich sehe Simone verwundert an. Sie öffnet ihren Bettschrank und holt ein frisches Glas heraus. Ich verstehe nicht, was das soll, jetzt, in diesem Moment. Wie kann sie nur ans Trinken denken? Aus dem Fruchtsaft, der auf dem Tablett steht, gießt sie zwei Gläser voll und reicht mir eines hinüber. „Auf unsere Freundschaft!“

April 2015